M. Akermann u.a.: Kinder im Klosterheim

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Titel
Kinder im Klosterheim. Die Anstalt St. Iddazell Fischingen 1879–1978


Autor(en)
Akermann, Martina; Jenzer, Sabine; Meier, Thomas; Janine, Vollenweider
Reihe
Thurgauer Beiträge zur Geschichte
Erschienen
Frauenfeld 2015:
Anzahl Seiten
244 S.
von
Sabine Lippuner, Historisches Seminar der Universität Zürich Bibliothek

Das 1879 gegründete Kinderheim St. Iddazell in Fischingen im Kanton Thurgau war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine der grössten Erziehungsanstalten der Schweiz. Von 1879 bis 1978 lebten dort über 6500 Kinder und Jugendliche für eine kürzere oder längere Zeit. Kinder im Klosterheim stellt die überarbeitete und ergänzte Fassung einer historischen Studie dar, die der Verein Kloster Fischingen 2013 bei der BLG Beratungsstelle für Landesgeschichte in Auftrag gegeben hatte. Der für das ehemalige Kinderheim zuständige Verein reagierte damit auf Berichte in der Deutschschweizer Presse, in denen ehemalige Zöglinge der Anstalt St. Iddazell über dort erlebte Missbräuche durch das Heimpersonal berichtet hatten.

Die historische Untersuchung der BLG zielte nun nicht einfach auf die Überprüfung dieser Vorwürfe ab, sondern versuchte, die Geschichte des Kinderheims St. Iddazell thematisch und zeitlich breit zu erfassen, um die «im Fischinger Heim herrschenden Strukturen und Umgangsformen, Stimmungen und Atmosphären einzufangen, die Übergriffshandlungen ermöglichten oder gar begünstigten» (S. 11–14). Dies ist geglückt, was auch in der vorliegenden Publikation deutlich wird. Sie geht aus von einem Überblick über die Entwicklung der Anstalt St. Iddazell: Nach der Klosteraufhebung im Kanton Thurgau kam es 1879 zur Gründung einer «Actiengesellschaft», welche als Trägerin eines Waisenhauses im ehemaligen Kloster Fischingen auftrat und 1887 in einen Verein umgewandelt wurde. Die Anstalt wandelte sich in den Jahren 1879 bis 1977 vom Waisenhaus zum Erziehungsheim und Sekundarschulinternat sowie zu einem Sonderschulheim und wurde schliesslich 1977 wieder zum Kloster.

In einem zweiten Kapitel wird die Anstalt St. Iddazell in das katholische Milieu eingeordnet, um den gesellschaftlichen Kontext, in dem das Heim funktionierte, auszuleuchten. Das ist auch deshalb interessant, weil sich, wie in Kapitel drei aufgezeigt wird, das Heim nicht nur aus Kostgeldern, staatlichen Subventionen und den Erträgen der Landwirtschaft finanzierte, sondern auch aus Spenden und Legaten, die aus ebendiesem katholischen Milieu kamen. Gegen aussen den guten Ruf der Anstalt möglichst zu wahren, war in Hinblick auf diese Spender und Spenderinnen wichtig, da die Ressourcen in St. Iddazell stets äusserst knapp waren.

Kapitel vier wendet den Blick wieder gegen innen und fragt nach den Hierarchien, Kompetenzen und Konflikten im Heim. Die Autorinnen und der Autor zeigen auf, dass die Arbeitsverhältnisse für das überwiegend geistliche Personal und insbesondere für die Ordensschwestern aufgrund der Personalknappheit, der übermässigen Arbeitsbelastung und der erzieherischen Überforderung mangels entsprechender Ausbildung ausbeuterisch waren. Die Gehorsamspflicht des geistlichen Personals trug dazu bei, dass diese Bedingungen akzeptiert wurden und bei Überforderung keine Abhilfe geschaffen werden konnte. Eine «Kultur der Verschwiegenheit» sei vorherrschend gewesen, welche Kritik am Heim und letztlich Reformen verhindert habe, heisst es in der Studie. Die Personalknappheit bewirkte, dass die Erziehenden auf den Abteilungen meist alleine für die Kinder und Jugendlichen zuständig waren und «relativ unbeaufsichtigt agieren» konnten, «was ihnen einen beträchtlichen Handlungsspielraum eröffnete» (S. 214). Die schwache Aufsicht und Kontrolle über das private Heim insgesamt wird auch in Kapitel sechs beleuchtet und als begünstigende Rahmenbedingung für Missstände aller Art identifiziert. In Kapitel fünf, wo es um den Heimalltag geht, stellen die Autorinnen und der Autor die Beziehungen im Heim dar. Diese waren punktuell von Nähe, meist aber von Distanz und auch Gewalt geprägt. In diesem Kapitel kommen Formen seelischer Misshandlung, die Strafpraxis insbesondere im Zusammenhang mit dem Bettnässen und sexuelle Übergriffe zur Sprache. Die Aussagen in diesen Kapiteln stützen sich stark auf die Interviews, welche für die Studie mit ehemaligen Zöglingen (20 Personen) und Erziehungspersonen (7 Personen) geführt worden waren. Sie sind ein unverzichtbares Fundament für die Studie, da gerade die oben erwähnten Themen wenig Niederschlag in den Akten gefunden haben. In den teilstrukturierten, leitfadengestützten Interviews kommen sehr unterschiedliche Erinnerungen und Einschätzungen zum Vorschein, was aber nicht bedeutet, dass «die einen recht haben und die anderen nicht» (S. 22). Denn die Art der Wahrnehmung des Heims hing, wie die Autorinnen und der Autor festhalten, von ganz unterschiedlichen Faktoren ab und war stark von Ambivalenzen geprägt.

Fazit der Studie ist, dass die emotionale Kälte sowie psychische Misshandlungen in der Erinnerung vieler Interviewter haften geblieben sind. Ferner sind Strafen und physische Gewalt während des ganzen Untersuchungszeitraums vorhanden gewesen. Dabei sind auch Formen von Gewalt, die über das jeweils gesellschaftlich akzeptierte oder übliche Mass hinausgingen, zur Anwendung gekommen. Erst Ende der 1960er Jahre kam es zu einer kritischeren Haltung gegenüber Gewaltanwendung im Heim. Zwölf von zwanzig interviewten ehemaligen Zöglingen berichteten zudem von direkt oder indirekt erlebter sexualisierter Gewalt oder sexuellem Missbrauch. Aufgrund dieser Berichte sowie auf der Grundlage von Hinweisen in schriftlichen Dokumenten lässt sich ohne Zweifel festhalten, «dass im Heim sexuelle Übergriffe vorkamen» (S. 215). Allerdings waren nicht alle Zöglinge von Übergriffen oder Missbräuchen betroffen, so wie auch nicht alle Erziehungspersonen in St. Iddazell gewalttätig waren.

Das grosse Verdienst der Publikation Kinder im Klosterheim ist, dass den Aussagen der ehemaligen Zöglinge und Erziehungspersonen viel Raum gegeben wird. Zahlreiche Aspekte des Heimalltags hätten nur auf der Grundlage konventioneller schriftlicher Quellen nicht so umfassend analysiert werden können. Die methodisch reflektierte, sorgfältig verfasste Studie stellt somit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Heimerziehung in der Schweiz dar.

Zitierweise:
Sabine Lippuner: Rezension zu: Martina Akermann, Sabine Jenzer, Thomas Meier, Janine Vollenweider: Kinder im Klosterheim. Die Anstalt St. Iddazell Fischingen 1879–1978, Frauenfeld: Verlag des Historischen Vereins des Kantons Thurgau, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 581-583.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 3, 2018, S. 581-583.

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